FAQ

Gleichstellung in Chorschulen

Der Zugang zu den staatlichen Chorschulen soll unabhängig vom Geburtsgeschlecht möglich sein. Staatliche Institutionen, die bislang im Rahmen eines sog. Knabenchorkonzepts ihr musikalisches Ausbildungsbildungsangebot auf Jungen  beschränkt haben, sollen sich für andere Geschlechter öffnen. Die herausragende musikalische Ausbildung beginnt im Kindesalter. Die Mitwirkenden haben die Möglichkeit, mit herausragenden Musiker:innen und Spitzenensembles aufzutreten. Häufig sind mit der privilegierten Ausbildung spätere musikalische Karrieren und Netzwerke verbunden. Alle diese Vorteile sollen unserer Auffassung auch Mädchen und nicht-binären Kindern zugutekommen.

Knabenchöre haben eine lange Tradition in der Kirchenmusik. Diese Tradition beruht aber auf einer diskriminierenden Praxis gegenüber Mädchen und Frauen. Nach dem paulinischen Gebot sollten Frauen in der Kirche schweigen.  Dies schloss Frauen über Jahrhunderte von der Mitwirkung in der Kirchenmusik aus. Die hohen Stimmlagen wurden deshalb mit Jungenstimmen vor dem Stimmbruch ersetzt. Zudem war Mädchen über Jahrhunderte die höhere Schulbildung verwehrt, so dass nur Jungen eine Ausbildung in den Chorschulen erhielten.

In England, wo man die Praxis der Knabenchöre in den großen Kathedralen ebenso kannte und die choirschools nur Jungen als choristers aufgenommen haben, hat man schon vor 30 Jahren begonnen, sich aus Gleichstellungsgründen von dem Konzept zu verabschieden?

Wir sprechen uns für den gleichberechtigten Zugang von staatlichen Chorschulen unabhängig vom Geschlecht aus. Mädchen sollen nur zukünftig an der Tradition und den damit aufgebauten Ausbildungs- und Aufführungsstrukturen gleichermaßen beteiligt werden. Die Institutionen bleiben bestehen und auch ein spezifisches Repertoire kann weiter gepflegt werde

a. Geselschaftlicher Wandel

In einer Zeit, in der

  • Gleichstellung eine hohe Bedeutung hat,
  • die Geschlechtertrennung in Schulen längst überwunden ist,
  • das Recht auf Geschlechtsidentität verfassungsrechtlich geschützt ist und
  • auf die Verwendung von geschlechtergerechter Sprache geachtet wird

passt die Vorstellung einer hoch finanzierten, staatlichen Bildungseinrichtung nur für Jungen nicht mehr.

b) Gleichberechtigung und Antidiskriminierung

Der Ausschluss von Mädchen von der Mitwirkung in Knabenchören widerspricht den rechtlichen Regelungen zur Gleichstellung von Mann und Frau:

Der Staat ist nach Art. 3 Abs. 2 GG zur Förderung der Gleichberechtigung verpflichtet (Fördergebot). Nach Art. 3 Abs. 3 GG darf wegen des Merkmals Geschlechts nur bevorzugt oder benachteiligt werden, wenn es dafür zwingende Gründe gibt (Diskriminierungsverbot).  Es ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Tradition allein keine Rechtfertigung für die Schlechterstellung von Frauen und Mädchen darstellt.

Zudem umfasst das von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht auch den Schutz der Geschlechtsidentität. Die Merkmale Geschlecht und Stimme lassen sich nicht von der Person lösen. Es kann damit nicht verlangt werden, dass Mädchen nur dann im Chor mitwirken können, wenn sie eine Jungenstimme haben. Dies würde den Maßgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuwiderlaufen. Das Geschlecht ist für die Person und die Persönlichkeit konstituierend. Die Stimme gehört zum Körper der Person. Das Bundesverfassungsgericht fordert für staatliche Eingriffe in die Geschlechtsidentität einen verfassungsrechtlich überragenden Rechtfertigungsgrund. Die Berufung auf Tradition reicht dafür nicht aus

Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) dient dem Schutz vor Diskriminierung im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns des Landes Berlin sowie der Herstellung und Förderung einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt (Diversity) und soll eine Politik der Chancengleichheit bewirken. Das LADG schützt vor Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts (§ 2 LADG). Hieraus folgt die Verpflichtung, Diskriminierungsverstöße zu unterlassen. Zugleich besteht eine Schutzpflicht, d.h. es müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit mittelbare Diskriminierungen nicht zu unmittelbaren Benachteiligung führen.

Die Benachteiligung von Mädchen z.B. im Staats- und Domchor der Universität der Künste Berlin verstößt damit auch gegen die Vorgaben des LADG: Gemäß § 8 LADG ist eine diskriminierende, öffentliche Stelle zum Schadensersatz bzw. zur Schmerzensgeldzahlung für diskriminierende Handlungen verpflichtet.

Frage: Mädchen und Jungen unterscheiden sich anatomisch. Welchen Einfluss haben diese Unterschiede auf die Singstimme

Kommentar: Ich höre Unterschiede zwischen Jungen und Mädchenstimmen:  Jungs sind meist lauter als Mädchen.

Die fürs Singen bedeutsamen körperlichen Anlagen von Kindern unterscheiden sich bis zur  Pubertät (sog. Stimmwechsel) nicht signifikant. Vielmehr ist für den Klang einer Singstimme entscheidend, ob sie trainiert oder untrainiert ist, welches Repertoire gesungen wird (Rock, Rap, Klassik) und welche Klangbilder im Zusammenspiel zwischen Sänger:innen und Gesangspädagog:innen entstehen. Soweit Jungen- und Mädchenchöre überhaupt unterscheidbare Klangbilder aufweisen, handelt es sich um einen reinen Schulungs- und Ausbildungseffekt.

Dies belegen die englischen Studien (vgl. z.B. Howard, Vocal production and listeners perception of trained English Cathedral Choristers, 2000).  Stimmbildung und Repertoire überlagern eindeutig die Effekte, die auf (geringe) biologische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen zurückzuführen sind. Soweit Gegner der Gleichstellung darauf beharren, dass es einen sog. spezifischen Knabenchorklang gäbe, der es rechtfertige Mädchen auszuschließen, ist dies nicht überzeugend. Selbst Expertenhörer können nicht zwischen Jungen- und Mädchen- und gemischten Chören unterscheiden, wenn die Sänger:innen gleich ausgebildet sind.

Hier gibt uns zum Beispiel die  Schweizer Gesangspädagogin, Barbara Böhl recht, die sich im Schweizer Rundfunk für die Aufnahme von Mädchen ausgesprochen hat.

Frage: Ich habe gehört, dass Jungen einen Ton länger halten können oder lauter singen können. Ist das nicht ein Argument für die rein männliche Aufstellung der Chöre?

Jede Stimme ist individuell. Jeder Chor klingt anders. Es gibt so viele Faktoren, die sich auf die Wahrnehmung eines Chorklangs auswirken (Räumlichkeiten, Gesangsausbildung, angestrebtes Klangbild, Nuancen, Repertoire usw.). 

Die bestehenden Knabenchöre machen bei der Aufnahme von Jungen auch selbst keine körperlichen Tests mit messbaren (z.B. phonometrischen) Ergebnissen, die als Aufnahmekriterien festgelegt worden sind, sondern das subjektive Empfinden der Prüfenden entscheidet über die Aufnahme.

Man kann deshalb nicht per se davon ausgehen, dass die Singstimmen von Mädchen generell anders klingen als Jungenstimmen. Sondern man muss zugunsten der von der bisherigen Praxis benachteiligten Mädchen bis zum Beweis, dass das anders ist, davon ausgehen, dass die vermeintlichen Unterschiede zwischen Jungen- und Mädchenstimmen allein auf der Bevorzugung von Jungs bei der musikalischen Ausbildung beruhen.

Sprechstimmen unterscheiden sich von Singstimmen. Wie alles im kindlichen Lernen, geschieht dies durch Nachahmen. Die Sprechstimmen von Jungen und Mädchen unterscheiden sich auch wegen sozialer Umstände: Studien belegen, dass Mädchen oft leiser sprechen, weil Jungen im sozialen Umfeld mehr Raum zugestanden wird. Viele Jungen orientieren sich beim Sprechen auch an Männern und versuchen die Sprechstimme nach unten zu ziehen. Männer sprechen Vokale durchschnittlich weniger deutlich aus, als Frauen. Das Phänomen zeigt sich schon bei Jungen.

Bei der Singstimme (im Kindesalter die Kopfstimme, im Erwachsenenalter die Bruststimme) heben sich die sozial geprägten Geschlechterunterschiede auf, sodass man keinen generellen bzw. geschlechtsspezifischen Unterschied mehr hört. Talent? Natürlich gibt es jede Menge Unterschiede auf Grund von individuellem Temperament, Charakter, Interesse. Die einen finden Singen blöd und die anderen super. Aber das hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Die Charaktere und Interessen hängen nicht generell vom Geschlecht ab. 

Gegner der Gleichstellung verweisen häufig darauf, dass Mädchen auch woanders singen können und eine musikalische Ausbildung erhalten könnten. Insbesondere verweisen sie auf Mädchenchöre, welche auch ein geschlechtergetrenntes Chorkonzept verfolgen.

Wir sind der Auffassung, dass sich Kinder den Chor aussuchen sollten, der den Interessen, Neigungen und Fähigkeiten sowie den örtlichen Gegebenheiten und nicht dem Geschlecht des Kindes entspricht. Für ein Mädchen aus Berlin ist es keine zumutbare Option zum Mädchenchor nach Hannover zu wechseln, nur dieser Chor gut aufgestellt ist.  

Die Förderung von Mädchenchören ist aber in keinem Fall mit der staatlichen Förderung und Spendenpraxis für die renommierten Knabenchöre vergleichbar (vgl. Nachweise Chorzeit, 12/2019). Häufig sind diese Mädchenchöre in der Kirche oder in Vereinen organisiert. In Vereinen müssen Mitgliedsbeiträge  gezahlt werden, während die staatliche Förderung für Jungen in Staatschören kostenlos und viel umfassender ist. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Ausbildung durch Gesangspädagogen und auf die  Aufführungsmöglichkeiten und die Medienpräsens aus. Anders als die Jungen kämpfen die vereinsrechtlich organisierten Chöre mit finanziellen Engpässen, die es gerade nicht ermöglichen, eine Vielzahl von Konzertreisen zu machen oder ein musikalisches Curriculum durchzuführen oder eine medial vergleichbare Präsens zu erzielen. Verständlicherweise werden professionelle Stimmbilder:Innen auch von den attraktiveren Angeboten der Staatschöre abgeworben. Schließlich bewirkt die herausragende Förderung eine lebenslange Vernetzung von Ehemaligen.

Mädchenchöre gibt es überhaupt erst seit ein paar Jahrzehnten. Dies Chöre haben sich ein eigenes Repertoire gesucht. Das unterscheidet sich von sog. Knabenchören, unterscheidet. Kinder oder Eltern sollten nach unserer Auffassung selbst entscheiden, was für sie passt und nicht auf Grund des Geschlechts von einem bestimmten Repertoire ausgeschlossen sein.

Dazu Sabine Wüstthof, Leiterin Berliner Mädchenchor im Deutschlandfunk zu Mädchenchören am 8.3.2021

In einem Fall des Mädchenchors Hannover scheint es gelungen, eine Finanzstruktur über Spenden aufzubauen. Eine mit den Traditionschören vergleichbare Internatsschule ab frühster Kindheit gibt es jedoch für Mädchen nicht.  Dies gibt es aber in Frankreich. Der Kinderchor von Radio France könnte ein Vorbild für die  Anpassung der hiesigen Staatschöre im Interesse geschlechtergerechter Chancengleichheit sein.  

Wir sind auch der Auffassung, dass Jungen in einem Mädchenchor mitwirken können. Diese Fälle sind gar nicht so selten, dass Jungen z.B. mit ihrer Schwester mitsingen wollen. Warum auch nicht? Solange es stimmlich passt, sollte allein das männliche Geschlecht kein Ausschlussgrund sein.

Frage: Ist denn der Gleichstellung mit einem Mädchenchor genüge getan, wie er nun bei den Regensburger Domspatzen eingerichtet worden ist?

Wir sehen Geschlechtertrennung skeptisch. Es muss dafür einen sachlichen Grund geben, den wir nicht sehen. Geschlechtertrennung ist auch nicht das Leitbild unserer Verfassung. In unseren staatlichen Bildungseinrichtungen wird grundsätzlich allen Geschlechtern der Zugang gewährt. So sollte dies auch bei einer musikalischen Bildungseinrichtung sein. So haben geschlechtergemischte Orchester haben kein Problem, dass Geschlechtertrennung erfordert.

Eine institutionelle Trennung mit dem Versprechen der Gleichwertigkeit dient in der Regel nicht der Gleichstellung, wie die Erfahrung USA hinsichtlich der Rassentrennung Bildungseinrichtungen in den USA am Beispiel zeigt (sog. Equal but Separate).

Werden Mädchen von Jungen in etablierten Knabenchorinstitutionen separiert, werden sie gerade nicht gleichgestellt, weil sie nicht vollwertig an der Tradition, der Ausbildung, den Auftrittsmöglichkeiten und am Erscheinungsbild teilhaben.  Insoweit kann es zur Installation von Pseudo-Mädchenchören an traditionell aufgestellten Knabenchorschulen kommen, wie das Beispiel des Mädchenchors bei den Wiener Sängerknaben zeigt. Hier sind die Mädchen gerade nicht gleichgestellt.

Solche Signale hört man auch aus Regensburg anlässlich der Aufnahme von Mädchen in die Schule der Domspatzen. Es soll einen separaten Chor geben, um den Markenkern der Domspatzen nicht durch die Aufnahme von Mädchen „verwässert“ werden, heißt es hier. Welche Marke? Was soll Verwässern bedeuten? Unser Auffassung nach bedeutet dies Abtrennung eine Herabsetzung, eine zweite Klasse (vgl. Krafeld, VAN-Magazin, Gleichstellung light, 2022).

In Berlin verweist der Staats- und Domchores auf die „Beibehaltung einer Geschlechtertrennung“ einen „Partnerchor“, der aber gar nicht Teil der Universität der Künste ist und auch lange nicht über die gleichen Ressourcen verfügt. In Leipzig gibt es einen Mädchenchor an der Schola Cantorum. Dieser Chor wird von der Stadt Leipzig nicht in gleicher Weise gefördert wie der Leipziger Thomanerchor. In England haben einige Kathedralchöre das getrennte Modell eingeführt. Belegt ist, dass die Mädchenformation schlechter ausgestattet ist, schlechter gefördert wird und weniger Spenden erhält, als die Jungenformation.

Unserer Auffassung darf eine Trennung der Geschlechter nur partiell, etwa bei Proben oder nur vorübergehend erfolgen, um ggfs. anschlussfähig zu werden, aber nicht institutionell.

Im Sport gibt es auch Mädchen- und Jungenmannschaften. Was spricht gegen geschlechtergetrennte Chöre?  

Der Sport folgt etwas anderen Regeln. Beim Chorsingen geht es mehr um Ästhetik als um körperlichen Wettkampf. Aber auch in den auf Ästhetik ausgerichteten Sportarten findet man geschlechterausgrenzende Mechanismen und Strukturen. Beispielsweise war das Kunstschwimmen (Synchronschwimmen) früher eine rein männlich gepflegte Betätigung bis Anfang des 20. Jahrhunderts Frauen über die populären Wasserballetts den Bereich eroberte und bis heute dominieren. Interessierte Jungen und Männer können deshalb nur in den Vereinen mitmachen  (vgl. Der Traum vom männlichen Synchronschimmer, youtube).

Andererseits kämme in der staatlichen Ballettschule Berlin wohl keiner auf die Idee, ein Geschlecht generell von der Ausbildung wegen einer ästhetisch geschlechtsspezifischen Präferenz auszuschließen. Hier unterscheiden sich Mädchen und Jungen sichtbar. Für das Chorsingen halten wir die Geschlechtertrennung daher nicht für erforderlich und dem Ziel der Gleichberechtigung abträglich.

Das Thema Geschlechtergerechtigkeit ist auch im Bereich des Sports nicht gelöst. Es bestehen geschlechterbenachteiligende Strukturen, insbesondere im Spitzensport. In vielen Sportarten werden Jungen stärker gefördert als Mädchen.

Es ist aber auch erklärtes Ziel des Deutschen Fussballbundes, dass Mädchen und Jungen so lange wie möglich gemeinsam trainieren, sodass beide Geschlechter wechselseitig profitieren. Beim Ringen z.B. trainieren beide Geschlechter gemeinsam.

Zugleich ist auch das Thema Leistungsklassen und Geschlechtertests ungelöst (vgl. z.B. Heckemeyer, Karolin; Leistungsklassen und Geschlechtertests, Die heteronormative Logik des Sports, 2018).

In Bezug auf Geschlechterkompetenz ist der Vereins- aber auch der Schulsport noch verbesserungswürdig. Allerdings finden sich in den Lehrmaterialien genügend Hinweise zur Koedukation im Sportunterricht und geschlechtersensiblen Sportunterricht. Insoweit halten wir die methodischen Ansätze, wie man mit geschlechtersensiblen Maßnahmen zum Abbau von Geschlechtsdiskriminierungen umgeht, für den Chorunterricht vergleichbar.

Es wird immer wieder behauptet, dass Jungen einen besonderen Schutzraum brauchen. Es wird nicht genau gesagt, warum und welche Gefahren drohen und warum das gerade beim Singen der Fall sein soll. Die Mitwirkung von Mädchen als störenden Faktor zu betrachten halten wir für verfehlt. Selbst wenn es Anhaltpunkte für geschlechtsspezifisch unterschiedliche Interessen geben mag, können diese im Allgemeinen erzieherisch bearbeitet werden und erfordern nicht den generellen Ausschluss oder die Benachteiligung eines Geschlechts. Dies zeigen auch die Erfahrungen in gemischten Orchestern.

Vorbehalt: „Jungs laufen weg, wenn Mädchen im Chor mitmachen.“

Jedem Einzelnen sollte die Freiheit zustehen, selbst zu entscheiden, in welchem Chor er oder sie singen will oder ob überhaupt Singen das Richtige ist. Wir halten es nicht für den richtigen Ansatz, Jungen mit einem Knabenchor-Mythos beim Singen zu halten, der vorgibt, dass sei etwas können, was Mädchen angeblich nicht könnten. Diese Zuschreibung kann auch zu verfestigten Stereotypen von „männlich“ und „weiblich“ sowohl bei den Mitwirkenden als auch bei den Ausgeschlossenen führen. Wir schließen uns der überwiegenden Meinung in der erziehungswissenschaftlichen Literatur an, wonach Vorbehalten auf Grund des Geschlechts erzieherisch begegnet werden kann. Menschen in Gruppen sind durch das gemeinsame Ziel verbunden, was die Praxis in gemischen Kinder- und Jugendorchestern belegt.

Es muss das Recht auf chancengleichen Zugang unabhängig vom Geschlecht gesichert werden. Die Aufnahmekriterien sind geschlechtsneutral zu regeln und faire Aufnahmeverfahren einzurichten, welche jede Benachteiligung aufgrund des Geschlechts ausschließt. Um ästhetische Belange von Geschlechtsvorbehalten zu lösen, könnte z.B. eine sog. Blind Audition (Singen hinter dem Vorhang oder Übersendung anonymisierter Tonaufnahmen) erfolgen. Es könnte auch eine Anzahl von Ausbildungsplätzen weiblichen Mitwirkenden vorbehalten werden. Jedenfalls sind Vorkehrungen zu treffen, dass kein geschlechtsspezifischer Bewertungsmaßstab für die Auswahl angewandt wird, d.h. Chorleiter, die erkennbar allein Jungenstimmen bevorzugen, sind befangen und würden die Bewertungsentscheidung verzerren (sog. Gender Bias).

Für Quereinsteiger im fortgeschrittenen Ausbildungsstadium muss es die Möglichkeit von sog. blind auditions (Singen hinter dem Vorhang) geben, um auszuschließen, dass geschlechtsspezifische Vorbehalte die Entscheidung beeinflussen. 

Bei den Jungen fällt der Stimmwechsel deutlicher aus als bei Mädchen, d.h. die Stimme wird mit der Pubertät tiefer (sog. Stimmbruch oder Stimmwechsel). Es ist also möglicherweise früher vorbei ist, mit Knabenchor als bei den Mädchen, wo das weniger deutlich ausfällt. Allerdings haben auch Mädchen einen Stimmwechsel. In England hat man für das Ziel der Gleichstellung vielfach die Lösung gefunden, dass für alle Mitwirkenden mit 14 Jahren gleichermaßen Schluss mit „Knabenchor“ ist. Das wäre eine Option.

Schließlich setzt das Pubertätsalter bei Jungen wie bei Mädchen heutzutage früher ein. Das bedeutet, dass das Zeitfenster für das Einstudieren anspruchsvoller Gesangsstücke immer kleiner wird. Einige Befürworter der Knabenchortradition befürworten deshalb, die Musikausbildung noch früher zu intensivieren und noch früher mit dem Internatsleben zu beginnen.  Diese Auffassung teilen wir nicht. Die Erfahrung in England zeigt, dass die Mitwirkung von Mädchen als Choristers auch zu einer Entlastung der männlichen Choristers geführt hat. Insoweit ist für deutsche Chöre Ähnliches zu erwarten. 

Oft wird für die Fortsetzung des Konzept Knabenchor angeführt, dass das Konzept Knabenchor und damit die Ausschlusspraxis erhaltenswert sei, weil die sächsischen Knabenchöre 2014 in das Bundesverzeichnis Immateriellen Kulturerbe aufgenommen worden seien. Diesen Eintrag halten wir für objektiv rechtswidrig, weil er dem Unesco-Übereinkommen und der Deutschen Unesco-Kommission (DUK) selbst vorgegebenen Kriterium einer inklusiven und entwicklungsoffenen Kulturform und den Anforderungen einer diskriminierungsfreien Äußerungspraxis widerspricht.

Vgl. hierzu Pacurar, Kultur der Ungleichbehandlung, Warum Sächsische Knabenchöre aus dem bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO zu streichen sind, VerfBlog, 2022/9/02, DOI: 10.17176/20220905-111743-0.

Schließlich hat die Deutsche Unesco Kommission mitgeteilt, dass mit dem Eintrag der sächsischen Knabenchöre nicht beabsichtigt ist, „geschlechtsdiskriminierende Folgen zu befördern“ und auf keinen Fall eine  „geschlechtsdiskriminierende Besetzungspraxis“ besonders geschützt werden sollte.

Haben Sie weitere Fragen oder Kommentare, die wir in die FAQ-Liste aufnehmen können, schreiben Sie uns an kontakt@equalityfighters.org

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