Gleichstellung in Chorschulen

Staatschöre diskriminierungsfrei

Ziele

  • Wir wollen, dass musikalische Ausbildung in staatlichen Einrichtungen allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von deren Geschlecht, Herkunft oder anderen Diskriminierungsmerkmalen zugänglich ist.
  • Wir wollen, dass die hochwertige und staatlich geförderte Ausbildung in sog. Knabenchorschulen nicht mehr nur Jungen offensteht und Mädchen künftig genauso in diesen staatlichen Einrichtungen gefördert werden.
  • Wir wollen die Diskriminierung beenden, die mit dem Konzept „Knabenchor“ verbunden ist.
  • Wir wollen gleichberechtigte Mitwirkungschancen an Hand geschlechtsneutraler Aufnahmekriterien und mittels geschlechtersensibler Aufnahmeverfahren

Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsstaat

  • Wir sind überzeugt, dass Gleichberechtigung heute einen höheren Wert hat, als die Fortsetzung einer nach den Ursprüngen und über Jahrhunderte gepflegten geschlechtsdiskriminierenden Praxis.
  • Wir sind überzeugt, dass die privilegierte Förderung allein von Jungen, die mit Vorteilen auch in späteren Berufen und Netzwerken verbunden ist, nicht mehr gerechtfertigt ist.
  • Wir sind der Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Geschlecht den gleichen Anspruch haben sollen, eine auf herausragende musikalische Ausbildungsbedingungen zu genießen und mit renommierten Ensembles zusammenzuwirken.

Was bedeutet das Konzept „Knabenchor“?

Knabenchöre entstammen einer kirchlichen Praxis. Frauen war es früher verboten am Gottesdienst, der Liturgie, mitzuwirken. Während der Liturgie wurde auch gesungen. Frauen war dies nicht gestattet. Die hohen Stimmen wollte man dennoch hören und übertrug somit diese Aufgabe männlichen Kindern, den sog. Sängerknaben, welche vor dem Stimmwechsel in hohen Lagen Alt und Sopran singen konnten. Die Jungen waren Surrogate der Frauenstimme. Das Klangideal von Knabenchören ist am Ideal der hohen Frauenstimme ausgerichtet. 

Die Zeiten haben sich geändert. Die Gleichstellung der Geschlechter steht in unserer Verfassung. Mädchen müssen deshalb bei der Ausbildung in allen staatlichen Musikschulen berücksichtigen werden. 

Dennoch haben die Institutionen ihre Knabenchöre in der rein männlichen Besetzungspraxis über die Zeit gerettet – erst die Kirche, dann die Monarchen und nun die staatlichen Träger unserer heutigen Demokratie. 

Die Chorschulen sind gut finanziert. Die Kosten einer Sängerknabenausbildung sind mit denen eines Medizinstudiums vergleichbar. Von der herausragenden Ausstattung staatlicher Knabenchöre kann man sich bereits über den Internetauftritt des Leipziger Thomanerchors oder des Dresdner Kreuzchors überzeugen.

Chorzeit-Dez-20019

Was steht gegen die Öffnung für Mädchen?

Aus unserer Sicht nichts. Die Institutionen und ihre Verteidiger argumentieren nur noch mit einem spezifischen Klang, was gerade musikspezifisch nicht belegt ist. Wir halten das für eine künstliche Abwehrstrategie: ein „besonderer Klang“ wird seit 150 Jahre behauptet. Die Kirche begann sich für Frauen und Frauenstimmen zu öffnen. Den Sängerknaben drohte der Bedeutungsverlust. Hierzu hat Dr. habil Stefan Lindl von der Universität Augsburg ein sachverständiges Gutachten erstellt. 

Gutachten

PD Dr. habil. Stefan Lindl
Historische Wertigkeit und Authentizität von Knabenchören

Bis heute gibt es keine fundierte Grundlage für die Annahme, dass sich Jungen und Mädchen beim Singen sensationell unterscheiden. In England hat man die Knabenchöre an den großen Kathedralchören auch aus Gleichstellungsgründen vor 30 Jahren geöffnet. Heute ist das Miteinander gängige Praxis 

Es wurden wissenschaftliche Untersuchungen zur Akustik durchgeführt. Augen zu und Ohren auf. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass geschulte Hörer auf die Frage nach dem Geschlecht der Choristers nur mit einem Prozentsatz richtig trafen, der nah am Raten liegt. Die Studien belegen, dass Stimmbildung und Repertoire größere Effekte auf einen wahrnehmbaren Chorklang haben, als Effekte, die dem Geschlecht der Choristers zuzuordnen gewesen wären.

Zur Studie: Howard, Vocal production and listeners perception of trained English Cathedral Choristers, 2000

In Deutschland ist ein solcher Vergleich gar nicht möglich, weil Mädchen die Ausbildung und das Repertoire der Knabenchöre verschlossen ist. Die Ausbildung ist in diesen Chorschulen mit die Beste. Sie ist besonders intensiv und fängt früh an, mit der Idee, dass die Jungen noch vor dem Stimmbruch die Fähigkeiten für ein anspruchsvolles Repertoire erwerben. Von dieser Ausbildung und den Netzwerken können Jungen später im Beruf profitieren. Ehemalige haben sich dafür ausgesprochen, diese herausragende musikalische Ausbildung generell für Mädchen zu öffnen (Thomanerinnen, VAN-Magazin 09/2021). 

Mythos?

Die Menschen haben sich an das Erscheinungsbild der Jungen gewöhnt, z.B. an Weihnachten oder an die Matrosenanzüge, die um 1900 eine Mode, welche sich bis heute in den Knabenchören gehalten hat. 

Einige Knabenchöre haben auch eine identitätsprägende Bedeutung für die Stadtkulturen. Wir sind der Auffassung, dass sich weder Kulturerbe noch Identitätsprägung verändert, wenn andere Geschlechter zukünftig mitwirken. Kultur ist immer entwicklungsoffen und niemals statisch oder eingefroren. 

Die Mitwirkenden sind Subjekte – die Kinder und Jugendlichen sind lebende Grundrechtsträger und keine Objekte wie Instrumente oder Pinsel einer Maler*in.

Gabs da nicht einen Fall in der Presse?

Ja. Ein mutiges Mädchen aus Berlin versuchte, das Licht der Gleichberechtigung in eine dieser Einrichtungen den Berliner Staats- und Domchor zu werfen. Ihre Auffassung ist, dass Mädchen die gleiche Chance auf eine gute Ausbildung, tolle Konzerte, Reisen haben sollten. Den Fall finden Sie hier als Erzählung. 

Perspektive gesellschaftlicher Wandel

In England hat ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden. Angefangen hatte es in der Chorschule der Salisbury Cathedral 1991. Es geht in diesem von uns angestrebten gesellschaftlichen Wandel um musizierende Kinder, d.h. um die Verwirklichung von Grundrechten wie Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Geschlechtertrennung ist für uns kein gesellschaftliches Leitbild. Wir stehen für Vielfalt und Chancengleichheit für alle. 

Vorbild: Maîtrise de Radio France

Ein Vorbild für eine Anpassung der hiesigen Staatchöre im Interesse geschlechtergerechter Chancengleichheit könne der hervorragende Kinderchor von Radio France in Paris sein. Hier werden geschlechtergemischt, Kinder und Jugendliche von 7 bis 15 Jahren (vor dem Stimmbruch) in der staatlichen Schule der Cité scolaire Jean de La Fontaine am Vormittag unterrichtet und erhalten am Nachmittag eine hervorragende musikalische Ausbildung in u. a. Chorunterricht, Gesang, Klavier und Harmonielehre. Derzeit hat der Chor 169 Mitwirkende Kinder.

Die Bewerbung umfasst drei Teile: Motivationsschreiben, Stimmprobe und drittens Gesangstest, musikalisches Training und Interview. Von der Aufführungspraxis kann sich hier jeder ein eigenes Hörbild machen. 

Häufig gestellte Fragen

Wie gewöhnlich gibt es bei gesellschaftlichen Veränderungen Einwände und Widerstände. Häufig hören wir z.B., dass Mädchen doch auch im „Mädchenchor“ singen können oder den Einwand „Jungen singen lauter“. Deshalb haben wir eine FAQ-Liste mit häufig gestellten Fragen erstellt. Sollte Ihre Frage nicht dabei sein, schicken Sie diese an: mail@mädchen-im-knabenchor.de. Gern setzten wir uns auch mit Studienmaterial auseinander. Über Lob und Support freuen wir uns immer.

Kritik

Wir wissen aus der Vergangenheit, dass nicht alle unsere Meinung teilen. Wir weisen bereits jetzt darauf hin, dass alle personenbezogen, misogynen oder sexistischen Kommentare unmittelbar an die Organisation HateAid weitergeleitet werden und von hieraus Schadensersatzansprüche gegenüber den störenden Personen geltend gemacht werden können. 

 

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Mädchen im Knabenchor

Interview mit Kirsten Wechslberger

Informationen

Häufig gestellt Fragen zum Thema „Mädchen im Knabenchor“

Unterstützende

Prof. Abbie Conant

Knabenchöre sind nicht aus einer musikalischen Tradition heraus entstanden. Sie verdanken ihre Existenz antiquierten religiösen Geboten, die Frauen in der Kirche das Wort verbieten. 1 Korinther 14, 34 „Es sollen die Frauen in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden. Sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz es fordert.“ Zum Glück haben wir diese Zwänge längst abgestreift. Das Erbe lebt aber fort, wenn Mädchen von der Ausbildung in Knabenchorschulen ausgeschlossen werden. Das musikalische Repertoire von Knabenchören kann von Mädchen und von Jungen gleichermaßen gesungen werden. 

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Fundierte, und weithin rezipierter Studien belegen, dass sogar ausgebildete Musiker Schwierigkeiten haben, den Unterschied zwischen einem Knaben- und einem Mädchenchor herauszuhören, die dasselbe Repertoire singen. Warum also sollte eine aufgeklärte Gesellschaft wie die deutsche eine Tradition fortführen, die Mädchen diskriminiert? Aufgrund der religiösen Prägung haben Knabenchöre eine privilegiertere Stellung als Mädchenchöre. Jungen erhalten damit eine bessere musikalische Ausbildung und haben viel öfter die Möglichkeit zum Auftritt als Mädchen. An der Musikhochschule, wo ich unterrichte, hat eine Reihe meiner männlichen Kollegen früher im Knabenchor gesungen. Knabenchöre erhalten oft staatliche Unterstützung. Meiner Meinung nach ist es gegen das Gesetz, dieses staatliche Geld nur für Jungen auszugeben. Jungen hätten keinerlei Nachteile, wenn Mädchen aufgenommen würden. Der Klang des jeweiligen Chors würde sich nicht verändern, gleichzeitig kämen Mädchen endlich in den Genuss einer Ausbildung und hätten damit Vorteile für ihre Zukunft, die ihnen Mädchenchören zumeist nicht bieten. Keinesfalls sollten wir eine Tradition der Diskriminierung fortführen, die keiner musikalischen Notwendigkeit entspringt, sondern lediglich auf religiösen Vorurteilen beruht. Der Schaden dieser Praxis ist weit größer als die angeblichen Vorteile. Manche behaupten, Knabenchöre seien notwendig, da Jungen nur schwer zum Singen zu motivieren seien. Aber müssen wir deshalb – damit Jungen besondere Privilegien genießen können – Mädchen benachteiligen? Wäre es nicht angebracht, sich auf andere Möglichkeiten zu besinnen, um Jungen zum Singen zu motivieren? Diskriminierung ist keine Kunst Wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen. Die Existenz reiner Knabenchöre beruht auf einer viele Jahrhunderte alten Tradition von Hass und Misstrauen gegen Frauen und Mädchen. Ich habe in meinem Leben erfahren müssen, was es heißt, diskriminiert zu werden. Als junge Frau spielte ich bei den Münchner Philharmonikern. Ich hatte das Vorspiel hinter dem Vorhang gewonnen. Trotzdem verweigerte Generalmusikdirektor Sergiu Celibidache mir über die Position mit den Worten: „Sie kennen das Problem – wir brauchen einen Mann an der Soloposaune.“ Es ging keine Sekunde darum, wie gut ich das Instrument beherrschte oder ob ich in der Lage war, die erste Posaune zu spielen. Es ging allein darum, dass ich kein Mann war. Frauen sollen solche diskriminierende Erfahrung nicht mehr machen müssen, auch kein 10- jähriges Mädchen, wie im vorliegenden Fall. Es muss unser Anspruch an Gerechtigkeit sein, allen Kindern die gleichen Ausbildungschancen zu geben, unabhängig von ihrem Geschlecht. Bei staatlichen Einrichtung wie dem Thomanerchor oder dem Dresdner Kreuzchor ist es nicht mehr hinnehmbar, dass nicht einmal wie in vielen anderen Domchören in den Häusern eine Mädchenabteilung besteht. Soll der Staat wirklich mehr diskriminieren dürfen, als die Kirche?

Die Wortverlaufskurven des DWDS stützten die Annahme, das „Knabenchor“ oder „Knabenstimme“ soziale Konstrukte des 19. Jahrhunderts sind: